Der Wald kommt in die Stadt
Eine uralte, knochige Eiche wächst ganz tief im Wald. Schon viele Sommer und Winter reckt sie ihre starken Äste der Sonne entgegen. In dieser Eiche wohnen Mats und Mara. Sie sind Wurzelwichte, die Eiche sorgt für sie und sie sorgen für ihre Eiche. Menschen können sie nicht sehen, nur Tiere und Pflanzen, der Wind, das Wasser und die Erde. Das liegt aber nicht daran, dass Wurzelwichte unsichtbar wären. Wurzelwichte sind einfach nur sehr klein und sehr scheu. Menschen sind meistens viel zu laut und viel zu unachtsam, um sie wahrzunehmen.
Mit allen Lebewesen können Wurzelwichte in deren eigener Sprache sprechen. Sie hören dem kleinen Bach zu, wie er kichert und sich freut, wenn er im Frühjahr über die vielen runden Kiesel springt. Sie lauschen dem feuchten Moos und hören sein erleichtertes Seufzen, wenn es sich wieder dehnen und strecken kann, nachdem der Schritt eines Tieres oder eines Menschen es fest zusammengedrückt hat. Sie hören sogar, wie die Raupen in ihren Kokons davon träumen, als bunte Schmetterlinge von Blüte zu Blüte fliegen.
Wurzelwichte haben keine besseren Augen oder schärferen Ohren als andere Lebewesen. Wurzelwichte nehmen sich einfach mehr Zeit. Geduldig hören sie zu, geduldig schauen sie hin. So lange, bis sie verstehen, was die leisen und lauten Stimmen der Waldbewohner sagen.
Doch heute Nacht passiert Mats und Mara etwas Schlimmes. Während sie in ihrer kuschligen Baumhöhle schlafen, fegt ein Sturm durch den Wald. Die alte, morsche Eiche knarrt und ächzt. Der Eichelhäher ruft warnend, wie er es immer macht, wenn Gefahr droht. Doch gegen einen Sturm kann auch ein Eichelhäher nichts ausrichten. Die Eiche fällt, die Wurzelwichte erwachen.
Mats und Mara wollen nicht glauben, dass ihre geliebte Eiche umgepustet wurde. Sie sitzen in ihrer Baumhöhle und überlegen traurig, wo sie nun wohnen sollen. Immer schon haben sie in der alten Eiche gelebt und es sich sehr gemütlich eingerichtet.
Am nächsten Tag erschüttert ein weiterer Stoß den Baum: Waldarbeiter laden die Eiche auf ihren Lastwagen, und ehe sich's Mats und Mara versehen, rattern die beiden zusammen mit einem Stapel Holz die Landstraße entlang. Oh je! Mats und Mara versuchen, nicht allzu sehr bei jeder Bodenwelle und jedem Schlagloch, durch das der Laster fährt, hin- und hergeworfen zu werden. Endlich kommt der Wagen zum Stehen. Zusammen mit dem Holz werden die beiden Wurzelwichte unsanft vom Lastwagen auf die Erde geworfen.
“Morgen bauen wir daraus die Bänke, für heute ist erstmal Feierabend.” sagt einer der Arbeiter. Die Bauarbeiter fahren mit ihrem Lastwagen davon. Mats und Mara verstecken sich hinter den Baumstämmen.
„Wo sind wir gelandet?“ flüstert Mats. Bang sehen sich die beiden Wurzelwichte an. Mara ist die Ältere. Sie wagt es als erste, aus ihrem Versteck hervor zu spähen.
Was Mara sieht, macht ihr Angst: Kein Baum weit und breit. Keine Pflanzen, kein Ameisenhaufen, nur Stein, harter, glatter Stein. Dafür Menschen, viele Menschen, die alle einem großen Steinkasten entgegeneilen, auf den ein paar Fische aufgemalt sind. Erschrocken kriecht Mara zu ihrem Bruder zurück. Sie sagt nichts. „Kein Baum?“ fragt Mats und beginnt zu weinen. „Wir sind in der Stadt!“ sagt Mara niedergeschlagen und umarmt ihren Bruder. Mats und Mara waren ihr Leben lang im Wald. Von der Stadt haben sie nur gehört, dass es dort sehr laut sein soll. Und keinen Wald gibt.
"Auf euch habe ich gewartet!" Eine tiefe, kehlig glucksende Stimme tönt direkt hinter ihnen, aus einem feuchten Erdloch. Erschrocken drehen sie sich um. Eine Kröte, etwas größer als die Wurzelwichte selbst, blickt sie aus golden glänzenden Augen an. “Ihr wollt nach Hause, habe ich recht?” Die Wurzelwichte nicken heftig. Die Kröte räuspert sich und setzt an zu einem Krötengesang:
"Zu Bäumen stets für Rat dich wende,
Zur Hilfe reiche deine Hände
Schaffst du’s der Zeichen zwölf zu finden
die sich zum Zauberwort verbinden
So hört die Mutter Gaia dein Begehr'
Und führt Dich heim ins Bäumemeer."
Die Kröte verstummt, zufrieden lauscht sie ihrem eigenen Gesang hinterher. Mehr möchte sie wohl nicht sagen.
„Welche Zeichen, Kröte?“ “Wo gibt es Bäume?” „Wer ist Mutter Gaia?“ fragen Mats und Mara durcheinander.
Die Kröte schnauft etwas empört. „Die Jugend von heute. Keine Ahnung! Mutter Gaia - das ist natürlich die Erde, die euch trägt. Unsere Erde. Jetzt wartet nicht zu lange. In der Stadt gibt es mehr Wald als ihr denkt. Ihr werdet gebraucht hier.“ Noch ehe Mats und Mara weitere Fragen stellen können, ist die Kröte verschwunden. Nur ein Blubbern aus dem Erdloch erzählt davon, dass sie gerade eben noch da war. Mats und Mara nehmen sich an der Hand. Ob sie zurück in ihren Wald finden werden?
1. STATION: Winterlinde
Sealife Konstanz
Mats und Mara helfen einer Wildbiene ein neues Nest zu bauen.
Ein Blatt weht neben Mats und Mara nieder, ein herzförmiges Lindenblatt. Mara wischt ihrem Bruder damit die letzten Tränen ab. Ein Lindenblatt? Die Wurzelwichte frohlocken. Jetzt ist es Mats, der noch einmal seinen Mut zusammennimmt und hinter dem Holzhaufen hervorlugt. Und tatsächlich, in einiger Entfernung entdeckt er eine Winterlinde, klein ist sie, noch eine Kind-Linde, nicht wie ihre riesige Eiche, aber ein Baum bleibt ein Baum. Doch zwischen ihnen und der Linde befinden sich schrecklich viele Menschen, von denen Mats und Mara nur die Beine sehen. Im Wald herrscht zumeist ein grünes Dämmerlicht, hier scheint die Sonne auf den harten Boden und blendet die Wurzelwichte.
Die beiden Wurzelwichte halten sich beide am Stiel des Lindenblattes
fest, rennen los, ein Windstoß erfasst sie. Langsam segeln sie wie
mit einem Fallschirm in Richtung Linde über die Menschen. Bis der
Wind nachlässt und sie unsanft gegen ein Hosenbein fliegen. Mats
presst das Lindenblatt an sich, dann rennen die beiden los. Im
Zickzack. Schuhe trampeln über sie hinweg. Mats reißt Mara zurück.
„Achtung!“ Beinahe wäre ihr ein roter Lederstiefel auf den Kopf
getreten.
“Stop!” ruft Mara. Im letzten Augenblick weichen sie einem
Hundehaufen aus. Igitt!
Endlich erreichen Mats und Mara die Linde und kriechen sofort
zwischen die schützenden Wurzeln am Boden.
„Hallo, wer seid denn ihr?“ singt die junge Linde. Ihre Blätter
rauschen vor Freude. Linden sind immer sehr gastfreundliche Bäume.
„Endlich habe ich mal wieder neue Gäste! Seid willkommen!“ Oben in
den Ästen der Linde surrt und schnurrt es, ein schwirrendes
Insektenflügelkonzert. Die Linde blüht und zahlreiche Hummeln,
Bienen und andere Insekten holen Nektar und Pollen aus den
schneeweißen Blüten.
“Sind wir denn keine Gäste?” brummt eine fröhliche Erdhummel, und
saugt weiter mit ihrem Rüssel Nektar aus einer Blüte. Die Linde
lacht.
“Ihr seid doch schon Stammgäste im doppelten Sinne!” Die Insekten
arbeiten gutgelaunt, manche singen, andere tauschen Neuigkeiten aus
und überbringen der Linde Nachrichten von weit entfernten Bäumen,
die sie zuvor angeflogen haben. Mats und Mara fühlen sich schon
etwas weniger verloren, die Wurzeln der Linde, das Insektengewirr,
der honigsüße Duft der Blüten - das fühlt sich alles heimisch an,
trotz der vielen lärmenden Menschen und der stechenden Sonne.
Plötzlich mischt sich unter das geschäftige Surren und Plappern der
Insekten eine verzweifelte Stimme.
“Mein Nest ist weg! Mein Nest ist weg! Wo sollen denn unsere Kinder
jetzt wohnen?”
“Jetzt beruhige dich erstmal.” sagt die Linde langsam und bestimmt.
Das verzweifelte Stimmchen gehört zu einem Wildbienenweibchen. Die
Wildbiene jammert immer mehr. Besorgt klettern Mats und Mara die
glatte braune Rinde herauf, über die noch dünnen Äste, bis in die
Krone der Linde, wo die Wildbienen aufgeregt im Kreis
umherschwirren. Verzweifelt erzählt die Wildbiene von ihrem Unglück,
sie hatte mit der Eiablage in einem Erdhaufen begonnen, nun jedoch
hatte jemand diesen Erdhaufen entfernt.
Die Linde seufzt. Sie hat den Wildbienen schon oft gesagt, dass hier
ein Bereich ist in dem Menschen Ordnung halten und man da besser
keine Nester baut.
“Ich kenne mich gut aus mit Menschen, meine Uroma war Dorflinde...”
“Jaja,” sagt die Hummel ungeduldig. Die Insekten kennen die
Geschichten der Linde. Sonst hören sie gerne zu, wenn die Linde
davon erzählt, wie ihre Vorfahren in der Mitte der Dörfer standen
und sich alles Wichtige unter den Linden zutrug.
“Den Wildbienen muss jetzt geholfen werden...”
Mats und Mara überlegen. Kein Zuhause zu haben, ist schrecklich, das können sie gerade sehr gut verstehen. Wildbienen kennen sie auch aus ihrem Wald und schätzen sie sehr. Schließlich sorgen sie dafür, dass Bäume und Blumen bestäubt werden. Nur dadurch kann es immer neue Pflanzen geben und Nahrung für die Bewohner des Waldes, aber auch für die Menschen. Davon haben die Waldbienen erzählt, dass sie auch das Gemüse und Obst bestäuben. Im Wald gibt es jedoch so viele wilde Ecken und alte Hölzer, dass die Bienen immer schnell einen Brutplatz finden.
Mats und Mara flüstern miteinander.
“Wir haben eine Idee, wartet hier!” sagen die Wurzelwichte. Nochmals
wuseln sie durch die Menschenbeine zurück zu dem Holzhaufen, mit dem
sie in die Stadt gereist waren. Dieses Mal laufen sie schon ziemlich
geschickt Slalom um die großen Menschenfüße. Beim Holzhaufen
angekommen nehmen sie einen alten morschen Ast aus dem Haufen, Mats
an der einen, Mara an der anderen Seite. Los geht die Reise wieder
zurück. Nur ein Kind bemerkt, dass sich am Boden ein Ast scheinbar
wie von Geisterhand bewegt und sagt “Schau mal”, zu seiner Mama.
Doch ehe die Mutter nach unten blickt, sind die Wurzelwichte schon
hinter dem nächsten Hosenbein verschwunden.
Kurz bevor sie die junge Linder wieder erreichen, werden die
Wurzelwichte jedoch samt Ast in die Höhe geworfen. Ein riesiger
Hund, weiß mit schwarzen Flecken hat den Ast gepackt und hält ihn
triumphierend in die Höhe. Mats und Mara wird Angst und bange beim
Anblick der nadelspitzen Zähne.
“Feines Hündchen, hast du einen tollen Stock gefunden, bring ihn
her!” ruft ein Mensch. Oh nein, wie können sie den Hund nur
dazubringen, den Stock loszulassen?
“Vielleicht ist ein Hund auch nicht anders als ein Fuchs,” meint
Mara, wenig überzeugt. Mit den Füchsen spielen die Wurzelwichte
nämlich sehr gerne im Wald.
“Hoffentlich...” sagt Mats. Und die beiden zählen ein “1,2,3..” und
pusten dem Hund ins Ohr. Und tatsächlich! Wie die Füchse kitzelt das
den Hund, er muss lachen und lässt den Stock fallen. Die
Wurzelwichte zerren den Stock weiter bis zur Linde und der Hund
rennt zurück zu seinem Menschen. Geschafft! Die Wurzelwichte
schieben den Ast zwischen zwei Wurzeln am Boden, wo er nicht
auffällt und rufen die Wildbienen.
Die Wildbiene schwirrt voller Glück vor ihrem neuen Zuhause
umher.
“Unsere Kinder werden sich so wohl fühlen! Dankeschön! Dankeschön!”
Sie beginnt sofort einen Gang in das tote Holz zu graben, um dort
ihre Eier hineinzulegen. Mats und Mara freuen sich für die
Wildbiene.
Und Mats und Mara, wie sollen sie nun in den Wald kommen? Die Kröte
fällt ihnen wieder ein - sie sollen doch nach Zeichen suchen! Die
Linde knarrt:
“Nehmt meinen ersten Buchstaben mit!”
“Wie sollen wir deinen Buchstaben mitnehmen? Dann heißt du ja nur
noch Inde!” meint Mara entsetzt.
“Nicht ganz mitnehmen, aufschreiben reicht! Oder ihr merkt ihn
euch...”
“Besser aufschreiben”, sagt Mats und malt ein großes L auf das
Lindenblatt. Er rollt das Blatt zusammen und befestigt es auf seinem
Rücken.
“Aber wo finden wir nun die anderen Buchstaben?” fragt Mara.
„Die Kröte meinte doch, wir müssen die Bäume fragen. Wissen deine
Nachbarn vielleicht etwas?“ sagt Mats. Im Boden ist ein fast
lautloses Wispern zu hören, die Linde fragt über das WWW
(WeltWeitesWurzelnetz) ihre Nachbarn. Die Linde knarrt.
„Nein, die wissen genauso viel wie ich, leider.”
Die Erdhummel brummt hilfsbereit:
“Ich kenne noch einen
anderen Baum, der euch helfen könnte, den wollte ich ohnehin noch
anfliegen. Kommt, ich nehme euch mit.” Die Wurzelwichte halten sich
an ihren behaarten Beinen mit den gefüllten gelben Pollentaschen
fest. Sie winken der Linde und all den Bienen und Hummeln zu und los
geht die Reise, ins Herz der Stadt.
Mats und Mara sind vor dem Sealife. Ihre Suche nach dem Zauberwort, das sie zurück in den Wald führt, läuft zunächst über die Lagobrücke, durch das LAGO-Shoppingcenter hindurch, die Otto-Ragenbass-Straße hinauf.
Sie folgen dem Weg über die Schwedenchance bis zum Döbele. Dort überqueren sie vorsichtig die viel befahrene Straße beim Kreisel, wenden sich nach links zum Grenz- oder Saubach. Dem Verlauf des Baches folgen sie bis ins Paradies.
Sie landen an der Fußgängerbrücke, die ins Untere Paradies zum Gottlieber Fußgängerzoll führt, und folgen der Hecke, die das Wohngebiet von der Europastraße trennt. Gleich neben der Auffahrt zur Brücke findet sich ein Grundstück mit einem kleinen grünen Metallzaun. Dort ist STATION 2.