2. Station: Zierapfel

Friedrich-Pecht-Weg 2

Konstanz bei Nacht: Mats und Mara schließen Freundschaft mit einer Fledermaus, passen auf ihr Fledermaus-Baby auf, während sie auf Jagd geht

Als die Erdhummel Mats und Mara unter einem kleinen Bäumchen absetzt, verfallen sie sofort in einen tiefen Schlaf. Zu aufregend war all das, was die beiden die letzten Stunden erlebt haben. Die Wurzelwichte träumen von ihrer Eiche, von den vielen großen Bäumen, die ihre Äste wie ein schützendes Dach über alle Wesen des Waldes halten. Sie träumen von Vollmond-Nächten in denen sie auf der Waldlichtung tanzten, beschienen von dem silbernen Licht des Mondes und dem funkelnden Sternenmeer der Milchstraße. Danach waren sie dann erschöpft und glücklich in die tiefschwarze, nach Moos duftende Dunkelheit ihrer Baumhöhle gefallen.

Plötzlich erwachen Mats und Mara – vom Licht. Jedoch ist es kein Sternen- oder Mondlicht, es ist auch nicht die blinzelnde Morgensonne, die sie weckt. Eine grelle, künstliche Laterne leuchtet die Nacht aus, Nachtfalter kreisen wild um das helle Licht, die Menschen schlafen in ihren Häusern. Mats und Mara liegen unter einem kleinen, blühenden Zierapfelbaum in einem Vorgarten. Sie sind noch immer in der Stadt und haben nur von ihrem Wald geträumt.
“Vielleicht kann uns der Zierapfel helfen, damit wir wieder in unseren Wald finden?” sagt Mats.
“Bestimmt, der kommt doch aus Neuseeland und ist schließlich auch weitgereist. He, kleiner Zierapfel, kannst du uns ein Zeichen nennen?” fragt Mara. Der Zierapfelbaum erwacht aus dem Tiefschlaf.
“Es ist dunkel, das ist das Zeichen zum Schlafen. Mehr weiß ich nicht. Und in Neuseeland bin ich nie gewesen. Da sind meine Urahnen aufgewachsen,” gähnt der Baum und verstummt.

Dafür erklingt nun eine andere, fiepsige Stimme:
“Mama, ich will mit, ich will nicht allein zuhause bleiben! Ich bin schon groß genug zum fliegen! ”
Eine zweite Stimme antwortet:
“Fritzi, das geht aber nicht anders, ich muss jagen gehen, das weißt du doch. In zwei, drei Tagen darfst du auch mit, dann sind deine Flügel stark genug.”
Neben Mats und Mara landet im Sturzflug eine Fledermaus auf dem Boden, an sie geklammert: das Fledermauskind Fritzi. Die Fledermausmama hängt sich kopfüber an einen Ast des Zierapfelbaumes. Das Fledermauskind klammert sich an ihr fest und jammert weiter.
“Ich bin sehr wohl groß genug zum Fliegen! In der Baumhöhle ist es so langweilig!” Mats und Mara sehen sich an.
“Brauchst du vielleicht Hilfe?” fragen sie die Fledermausmama, ein Abendseglerweibchen. Abendsegler kennen Mats und Mara aus dem Wald, im Baum nebenan lebte eine Abendseglerfamilie im Baumloch.

Die Abendseglerin stößt ein paar Töne in Mats und Maras Richtung aus. Ihre kurzen dreieckigen Ohren bewegen sich schnell in ihre Richtung und fangen das Echo ihrer Töne auf. Denn die Fledermaus sieht mit den Ohren. Und was sie sieht, erfreut sie:
“Ihr seid Wurzelwichte!” Die Fledermausmama weiß, dass Wurzelwichte hilfsbereite und zuverlässige Wesen sind.
“Könntet ihr auf meine kleine Fritzi aufpassen? Ich muss noch wahnsinnig viel Futter erbeuten....” Und ehe sich Mats, Mara und Fritzi versehen, hat die Fledermausmama sie gepackt und fliegt mit ihnen um die Straßenecke zu einem alten Apfelbaum, der mit anderen Apfelbäumen neben den Häuserreihen in einer langen Allee steht. Dort lässt sie die drei vor ihrer Baumhöhle zurück und verschwindet mit einem schnellen Flügelschlag im Nachthimmel.

Motorenlärm, ein Auto rast durch die Nacht an ihnen vorbei. Mats und Mara verstecken sich erschreckt in der Baumhöhle. Fritzi fiept.
“Ich will zu meiner Mama!” Die kleine Fledermaus hängt falschrum, wie Fledermäuse es so machen, an der Holzdecke. Mats und Mara sehen sich ratlos an. Was tun? Da hat Mats eine Idee. Auch er hängt sich falschherum an die Decke. Mara ebenfalls. Vielleicht können sie sich so besser verstehen? Die Fledermaus muss lachen - das sieht lustig aus, wie den beiden Wurzelwichten die Haare zu Berge stehen.
“Dann müsst ihr eben mit mir Flugstunden machen”, sagt Fritzi. Sie schlägt mit den Flügeln. Mats und Mara versuchen es ihr nachzumachen, bis sie alle drei vor Lachen von der Decke fallen. Von draußen scheint das Licht der Straßenlaterne herein.

Außer Atem ruhen sich die drei etwas aus.
“Wo ist denn der Mond?”, fragt Mats die kleine Fledermaus.
“Und die Sterne?” fügt Mara hinzu.
“Ihr seid ja wie die Nachtfalter”, meint Fritzi. “In der Stadt ist es zu hell, um den Mond und die Sterne zu sehen”, erklärt die kleine Fledermaus.
Die drei setzen sich ans Baumloch und hören den Nachtfaltern zu: die Schmetterlinge der Nacht umschwirren die Straßenlaterne und rufen wild durcheinander:
“Der Mond kommt immer näher!”
“Autsch, ich hab mir den Kopf an ihm gestoßen!”
“Ich seh nichts mehr”
“Ich kann nicht mehr”.
“Wieso ist der Mond so groß?”
Mats und Mara lachen über die hektischen Insekten.
“Sie denken die Straßenlaterne wäre der Mond, und versuchen so ihre Richtung beizubehalten, aber das funktioniert natürlich nicht.”
“Oh.” Mats hört auf zu lachen. Jetzt sieht er auch, dass am Boden schon einige Nachtfalter liegen, die erschöpft vom Himmel gefallen sind.
“Das ist nicht der Mond!” ruft Mara nach oben Richtung Straßenlaterne.
“Ich hab’s ihnen auch schon gesagt”, sagt Fritzi. “Aber sie glauben mir nicht. Naja, vielleicht liegt das auch daran, dass ich eine Fledermaus bin.” Doch auch auf die Wurzelwichte reagieren die Falter nicht.

Mara und Mats springen auf den Boden. Mara kniet sich neben einen der Nachtfalter, der bewusstlos am Boden liegt. Sie legt ihre kleine Hand auf seinen weichen Kopf. Es ist eine Gamma-Eule. Der Falter besitzt eine silbrig- weiße Zeichnung auf den Flügeln, die an ein griechisches Gamma erinnert. Wie die meisten Nachtfalter trägt auch die Gamma-Eule ein schlichtes, graubraunes Kleid. Und dennoch oder gerade deswegen lieben Mats und Mara die Schmetterlinge der Nacht sehr. Es tut den Wurzelwichten leid, dass die Tiere ihre Kraft an den Straßenlaternen verschwenden. Mara flüstert dem Falter etwas ins Ohr. Der Falter zuckt mit seinen Fühlern, als würde er träumen. Oben in der Baumhöhle fühlt sich Fritzi einsam. Sie ruft nach den beiden Wurzelwichten und erinnert sie wieder an ihre Aufgabe.
“Komm mit”, flüstert Mats. “Mehr können wir nicht führ ihn tun.” Mara folgt ihrem Bruder in die Baumhöhle.

Gemeinsam singen Mats und Mara für Fritzi ein Einschlaflied:
“Schlaf Fritzi, schlaf nur ein, bald schaut der gelbe Mond hinein.”
“Die Sonne, bald kommt die Sonne!” verbessert Fritzi. Sie hängt wieder kopfüber in der Baumhöhle und blinzelt müde mit den Augen. Draußen geht die Straßenlaterne aus, und die Nachtfalter sinken erschöpft auf die Wiese. Als ihre Mama zurückkommt, ist Fritzi gerade eingeschlafen.

“Möchtet ihr nicht mit in unseren Wald kommen? Da lebt es sich für Fledermäuse besser!” schlägt Mats ihr vor. Die Fledermaus schüttelt ihre seidigen Flügel.
“Nein, nein. Früher habe sie auf dem Land gelebt, da gab’s nur Getreidefelder, sonst nichts. Wohnungsnot für Fledermäuse.
“Hier gibt’s immerhin Apfelbäume und manche Menschen hängen sogar Fertighäuser für uns auf. Wobei es sich am schönsten natürlich doch in einem Baum lebt.”
“Danke”, knarrt der alte Apfelbaum etwas verlegen. Auch die Abendseglerin ist jetzt neben ihrem Kind eingeschlafen.

Draußen geht die Sonne auf, die Stadt erwacht und in Mats und Mara das Heimweh. Die Morgensonne taucht die Stadt in ein warmes, goldenes Licht. Dennoch müssen Mats und Mara an ihren Wald denken. Dort fielen morgens lange funkelnde Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel bis zu den weichen Moosdecken am Erdboden und brachten die Tautropfen zum Glitzern. Der alte Apfelbaum meldet sich zu Wort:
“Ich kann euch helfen, euren Wald wiederzufinden. Nehmt mein viertes Zeichen nur, und folgt der Apfelbäume Spur!”

“Danke, Apfelbaum!” sagt Mats, nimmt eines der eiförmigen, dunkelgrünen Apfelbaumblätter vom Boden auf und malt ein großes E darauf. Dann steckt er das Blatt zu den anderen Blättern auf seinem Rücken. Ein Nachtfalter tanzt im Schwirrflug an Mats und Mara vorbei auf eine Löwenzahnblüte zu. Mara erkennt erfreut die kleine Gamma-Eule wieder, sie scheint sich durch die Kraft der Wurzelwichte etwas erholt zu haben. Mats und Mara machen sich auf den Weg. Wo werden sie wohl als nächstes landen?


Mats und Mara laufen nun einfach an der Hecke entlang weiter bis zur nächsten, die Europastraße überquerenden Brücke. Dort biegen sie nach rechts, entlang der Brückenauffahrt ab und gelangen zur STATION 3.

Ein Feldahorn ist gut zu erkennen, gleich rechts hinter einer Hecke vor einem auffällig mit Schildeln gedeckten Haus.