11. Station: Zierapfel
Luisenstr. 2-6, Konrad-Witz-Str. 1-5
Das Leben im Hinterhof
Es ist noch dunkel, als Mara erwacht. Die Tautropfen glänzen perlenhell im ersten Dämmerlicht, das Mara jedoch eher erahnen als sehen kann. Sie schaut sich um. Mitten in einem dreieckigen, häuserumstandenen Hof erhebt sich eine prächtige Kastanie. Weit streckt sie ihre Äste in den umliegenden Raum. Das Grün ihrer Blätter ist noch frühlingszart, weiße Blütenkerzen mit rosa Tupfern, geschlossen noch, strecken sich und warten auf den Sonnenschein. Dumpf klingen fünf Schläge einer Kirchenglocke irgendwo nicht allzu weit entfernt.
Neben Mara liegt Mats. Tief und langsam klingen seine Atemzüge. Mats schläft ruhig. Ein kastenförmiger, orangefarbener Lastwagen rumpelt auf den Hof. Seine Scheinwerfer blenden Mara. Sie bedeckt ihre Augen mit ihren Händen und blinzelt durch die Finger hindurch. In orangefarbene Kleidung gehüllte Männer sammeln schwarze Tonnen, hängen sie hinten an ihren Wagen und drücken einen Knopf. Ruckelig bewegen sich die Tonnen in die Höhe, werden dann von ihrer Haltevorrichtung gekippt und gerüttelt. Ihr Inhalt purzelt ins Innere des Wagens. Die Männer springen hinten auf den Wagen, halten sich an einer Stange fest und schon sieht Mara nur noch seine roten Rücklichter. Einmal blinkt es noch gelb. Dann sind sie weg, und Mara lauscht in die zwitschernde Unruhe des frühen Vogelkonzerts. Da, ein Gartenrotschwanz. Und hier eine gelbschnäbelige Amsel. Den gelben Schnabel kann Mara nicht sehen. Aber sie denkt ihn sich.
Ein blauer, aufgeregt bewegter Lichtschein durchläuft den Hof. Schnell fährt ein Auto unsichtbar, aber doch nah vorbei. Mara kann nur das Farbenspiel beobachten. Hinter einem Fenster geht Licht an und dann wieder aus. Aus dem Schutz einer Mauer im Vorgarten erhebt sich die Gestalt eines großen Mannes. Er dehnt und streckt sich, beugt sich nach links und nach rechts. Dann trägt er ein paar Flaschen zu einem Mülleimer und wirft sie hinein. Merkwürdig, denkt Mara. Jetzt hebt er einen großen dunklen Beutel vom Boden auf. Der sieht aber dick aus. Der Mann schüttelt ihn und rollt ihn danach zu einem kleinen runden Paket zusammen. Neugierig geht Mara ein Stück näher heran. Taschen liegen auf dem Boden und Plastiktüten. Der Mann sammelt alles ein und befestigt dieses Gepäck auf einem Fahrrad. Er schwingt sich hinauf und verschwindet um die nächste Straßenecke.
Auf dem Hof wird es wieder ruhiger. Mara gähnt. Müde kuschelt sie
sich an Mats und schläft ein. Als sie wieder aufwacht, ist rege
Bewegung im Hof. Kinder mit Rucksäcken kommen lachend und schwatzend
aus den Häusern. Menschen gehen zu den Autos, die unter der Kastanie
im Hof und drumherum parken. Manche gehen langsam, andere schneller.
Manche scheinen noch ganz versunken in den Traum, aus dem sie gerade
erst erwacht sind. Andere wiederum gehen zielstrebig auf ihre
Fahrzeuge zu, den Schlüssel in der Hand. Immer wieder blitzen kleine
gelbe Lichter an den Autos auf. Die Menschen öffnen deren Türen,
schlüpfen hinein. Mit Lärm und Gestank erwachen die Motoren zum
Leben. Der Hof leert sich.
„Mensch, pass doch auf!“ schreit einer einen anderen an.
Mara döst wieder ein. Später spürt sie die Hand von Mats auf ihrer
Schulter.
„Komm, wach auf, frühstücken“ flüstert er. Er zieht sie am Arm hoch.
Gemeinsam lecken sie ein paar Tautropfen von den Gräsern.
„Bäh“, sagt Mats, „das schmeckt hier einfach nicht.“
„Nein“, antwortet Mara traurig, „das schmeckt hier wirklich
nicht.“ Aber den Nektar aus den Kastanienblüten saugen und lecken
sie mit großer Freude. Die Kastanie kichert ein wenig, als die
Wichte auf ihr herumklettern.
„Na, solche wie Euch habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr
gesehen“, sagt sie dann.
„Wir haben uns verlaufen“, seufzt Mats. „Unser Wohnbaum ist
umgefallen“, erklärt Mara, „und, ohne dass wir recht wissen, wie,
sind wir hierher geraten.“
„Wir möchten wieder zurück.“ Die Kastanie ächzt. Und schweigt.
Schimpfend kommt eine Frau aus einem der Häuser gelaufen.
„Nie wieder!“ schreit sie, „Nie wieder, hörst Du!?!“ Drohend
schüttelt sie eine geballte Faust gegen ein dunkles Fenster. Mara
kann nicht erkennen, welches sie meint.
„Ist die Frau sauer?“ fragt Mats. Dunkel gluckst die Kastanie:
„Ja, mein Junge, ich denke, das kann man wohl so sagen.“ Müde, als
wisse sie nicht mehr genau, was sie als nächstes tun wolle, schlurft
die Frau hinaus auf den Hof. Sie hebt den Kopf und sieht die Bank,
die die Kastanie umstellt.
„Gut“, flüstert sie und lässt sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die
Bretter fallen. „Was mach ich nur, was mach ich nur“, fährt sie
fort. Aber sie scheint kaum zu merken, dass sie spricht.
„Was hat sie?“ fragt Mats. „Tut ihr was weh?“ Tief atmet die
Kastanie.
„Das Herz“, sagt sie langsam, „es ist das Herz.“
In der Ferne hört man eine Sirene heulen.
„Muss sie zum Arzt?“ fragt Mara.
„Ein Arzt“, rauscht die Kastanie, „kann da wenig tun.“ Der Kopf der
Frau sinkt nach hinten, lehnt sich an den Stamm des Baumes. Leise
beginnt die Kastanie zu singen. Ein altes, altes Lied. Für
Menschenohren ist es nicht zu hören.
„Aber das Herz der Menschen kann diese Töne hören.“ Sanft widmet
sich die Kastanie wieder ihrem Gesang. Und richtig. Plötzlich erhält
der Blick der Frau etwas Klares. Ihre Mundwinkel entspannen sich.
Wenig nur, einen Hauch, doch Mara hat es genau gesehen. Etwas ist
angekommen. Etwas hat sich den Weg gebahnt von Baum zu Mensch.
Eine alte Frau, schwer von Jahren, eine kastenförmige Handtasche in
der rechten Hand setzt sich neben die Schimpfende, die jetzt schon
gar nicht mehr wütend ist. Sie tätschelt der Jüngeren den
Handrücken.
„Es geht vorbei“, sagt sie, „es geht vorbei. Glaub mir.“ Und die
Jüngere umgreift die Hand der Älteren. Lässt sie nicht los.
Schweigend bleiben sie sitzen.
MÖÖÖÖÖP HRRRRMMM MÖÖP MÖÖP TUUUUUUUUT tut tut tut TUUUUUUUUUT – auf
dem Hof saust ein kleines, knallbuntes Auto im Kreis und macht einen
ohrenbetäubenden Lärm. Was ist das? Da sitzt keiner am Steuer und
für menschliche Fahrer ist es ohnehin zu klein.
„Ein Kobold“, glaubt Mats, „Ich glaub, da fährt ein Kobold.“
Krachend saust das Auto gegen den Stamm der Kastanie. Ein Kind
lacht. Es rennt zu dem Auto.
„Da hast Du Deinen Kobold“, stänkert Mara. „Ein höchst menschlicher
Kleinkindkobold.“
„Hahahahaha!“ lacht das Kind und holt sein Auto zurück.
„Komm jetzt“, treibt seine Mutter es an. Ein Schatten läuft über das
fröhliche Kindergesicht:
„Nein! Ich will nicht. Will spielen!“
„Ich muss in einer halben Stunde bei Tante Emma sein. Nun komm.“
„Tante Emma ist blöd. Blöd. Blöd. Blöd.“
„Tante Emma ist nicht blöd. Da gibt es doch immer Kuchen mit
Schokolade“, versucht die Mutter ihr Kind zu locken. Aber das gibt
nicht nach:
„Will keine Schokolade. Ich will mit dem Auto spielen.“
„Aber das kannst Du doch auch später noch tun.“
„Neinneinneinneinnein“
Mit Schwung kommt ein Auto in den Hof gefahren. Es bleibt mitten auf dem Weg stehen, ein junger Mann springt heraus, läuft um das Auto herum zum Kofferraum, holt einen roten großen Plastikkoffer heraus und schleppt ihn zu einer der Haustüren. Dann rennt er zurück, holt einen grünen, dann einen blauen und schließlich einen gelben Koffer. Beim grünen springt er über das Auto, beim blauen umläuft er es weiträumig und beim gelben endlich stolpert er, flucht, rappelt sich auf, reckt die Faust. Aber das spielende Kind hat sein Auto längst gepackt und ist hinter seiner aufgeregten Mama hergelaufen.
Jetzt sperrt der Mann den Kofferraum ab, rennt zum Haus, hastet die beiden Treppenstufen hoch, die er auf seinem Weg überwinden muss, stolpert fast, stolpert wieder zu seinen Koffern, kramt in allen Taschen, bringt einen Schlüssel hervor, schließt auf, nimmt stöhnend einen der Koffer und verschwindet im Haus. Dann kommt er, eine quälende Ewigkeit später, zurück, holt den nächsten Koffer und immer so weiter, bis alle Koffer im Haus sind. Dann kommt er nicht mehr zurück. Er ist bei seinen Koffern geblieben.
Mit flinken Bewegungen hüpft ein Eichhörnchen an Mats und Mara
vorbei.
„Geht doch mal zur Seite, hier kommt man ja kaum
durch“, drängelt es und verschwindet in den Zweigen.
„Mann!“ stöhnt Mats, „In der Stadt sind selbst die Tiere hektisch.
Er schließt die Augen und stellt sich eine Waldlichtung im Morgentau
vor. Nebel steigt auf. Hinter den Büschen hebt ein Reh seinen Kopf.
Pilze verströmen einen leicht modrigen Duft und von irgendwoher
ertönt das Lied eines frühen Vogels. Mats seufzt.
„Was machen
wir denn nun?“ fragt er Mara. Doch die weiß es auch nicht. So
bleiben die beiden sitzen und schauen in den Hof zu ihren Füßen.
Ein schwarz gekleideter Mann erscheint, er trägt Werkzeug über der Schulter, eine Bürste an einem Stock, eine Kugel an einer Kette aus Stahl. Zielstrebig läuft er auf eine Tür zu, klingelt und verschwindet.
Zwei Damen, so grau wie ein Regentag im November, schleichen durch
den Hof. Sie tragen eine Tasche und sprechen leise miteinander. Die
Wichte können sie nicht verstehen. Die Damen klingeln an einer Tür,
sprechen, klingeln wieder, sprechen und klingeln wieder und wieder
und sagen ihre Sprüchlein auf, doch nie antwortet jemand. Müde
schlurfen die Damen weiter. Der einen rutscht ein violetter Schal
vom Hals. Flink läuft Mara zu dem Schal und, noch ehe sie darüber
nachdenkt, spricht sie die Alte an. Die sieht sie an. Ja, wirklich,
sie sieht ihr direkt in die Augen.
„Danke,“ sagt sie schlicht, „danke.“ Sie lächelt auf einmal. Dann
legt sie ihren Schal um die Schultern und geht, so schnell ihre
alten Füße sie tragen, der anderen Dame nach, die gar nicht gewartet
hat. Als sie sie erreicht, dreht sie sich noch einmal um und winkt
ein kleines Winken. Mara winkt zurück.
„Komm schon“, sagt die Frau, die vorangegangen ist.
„Hab nur meinen Schal verloren.“
„Nun komm.“ Weg sind sie.
Aus einem Fenster fliegt ein spitz gefaltetes Papier, es segelt in
eleganten Kreisen durch den Hof. Fast scheint es einen Moment
stillzustehen, dann entschließt es sich, sanft, ganz sanft direkt
auf Maras Schoß zu landen. Verwundert blickt Mara nach oben. Erst
sieht sie nichts, doch dann entdeckt sie ein offenes Fenster und
sieht eine Hand, die winkt. Meint die Hand sie? Kann das sein?
„Haaallooo!“ ruft es aus dem Fenster. Es ist ein kleines Mädchen.
Ach, jetzt erkennt Mara das Mädchen: Mariele! Sie haben es auf einem
Spielplatz getroffen. Dort hatte es Kaugummi gekaut. Das war lustig!
Zum Zeichen des Wiedererkennens winkt Mara noch einmal deutlicher
und pufft Mats in die Seite:
„He, Mats, sieh' mal. Da oben ist
Mariele. Sie hat uns einen Flugpfeil geschickt.“ Mats sieht auf.
„Papierflugzeug“, sagt er. Und fügt, als Mara verständnislos guckt,
hinzu:
„Papierflugzeug! Das habe ich zwei Jungs sagen hören.
Sie nehmen ein Blatt Papier und falten es zu einem Flugzeug, so
einer Maschine, wie sie die Menschen benutzen, um am Himmel zu
fliegen. Die können sich ja nicht, wie wir, einfach bei einem Spatz
auf den Rücken setzen.“
Mats muss bei der Vorstellung, ein Mensch könne sich auf einen Spatz
setzen, lachen.
„Der käme gar nicht mehr hoch. Haha!“ Mats kringelt sich vor Lachen.
Mara schaut den Flieger an. Mit Wachskreiden hat Mariele ihn bemalt.
So bunt! Vorsichtig faltet Mara den Flieger auf. Auf dem Blatt hat
Mariele Mats und Mara gemalt. Und sich selbst wie sie gemeinsam im
Sandkasten spielen. Mara lächelt.
„Mara!“ Noch ein Flieger segelt über den Hof. Diesmal ein kurzer
kleiner mit eingefalteter Nase. Papierflieger kann man wirklich gut
in einem großen Hof herumsausen lassen. Auf die Tragflächen hat
Mariele einen Buchstaben gemalt. Groß und bunt steht da 'K'.
„Ja, aber das kann sie ja gar nicht wissen“, Mats gähnt, „Mariele
kann nicht wissen, was unser nächster Buchstabe ist.“
„Kann sie doch“, mischt sich ein quiekiges Stimmchen dazwischen. Wer
war das?
„Hallo! Ihr da!“ ruft es wieder, „Kommt doch mal rüber!“
„Wer bist Du denn?“
„Na. Ich halt.“
„Du halt?“
„Ich halt.“
„Wer ist 'Ich'?“
„Sag ich doch 'Ich' – also nicht Du oder Ihr oder all die anderen.
Ich.“
Mats und Mara sehen sich an. Hier flüstern so viele Stimmen
gleichzeitig. Wer soll dieses 'Ich' wohl sein? Da hilft ihnen die
Kastanie weiter:
„Das ist der kleine
Zierapfel. Der ist noch ganz jung. Und da sagt er halt immer 'Ich'.“
„Haaaallo -“ ruft es wieder.
„Wir kommen.“ Die Wichte klettern den Baum herunter, wären fast von
einem Skateboard überfahren werden, als sie schnell den Hof
überqueren, um zum Zierapfel, der etwas erhöht am Rande steht, zu
kommen. Der Junge, der über den Hof flitzt, hat die Wichte nicht
gesehen. Atemlos kommen sie beim Zierapfel an.
„Ja“, sagt der Zierapfel.
„Ja?“ fragen die Wichte.
„Ja“, bestätigt der Apfel.
„Was 'ja'?“ fragen die Wichte.
„Na, der Buchstabe. Er ist richtig. Ich habe ihn Mariele verraten.“
Mara schaut zum Fenster hoch.
„Und Mariele kann mit Dir sprechen?“
„Sie sagt, sie hat das von Euch gelernt.“ Mats lächelt.
Mit einem „Darf ich?“ zupft er vorsichtig ein Blatt vom Zierapfel.
„Au!“ ruft der Baum.
„Entschuldige“, sagt Mats. „Ja, schon ok, tut trotzdem weh.“ Dann
kniet er sich hin und malt ein schönes großes K auf das Blatt.
Zur letzten Station laufen Mats und Mara geradeaus aus dem Innenhof heraus auf die Allmannsdorfer Straße. Sie gehen über die Ampel geradeaus und gleich danach über die Ampel zur Linken und folgen dann rechts hoch der Wollmatinger Straße, bis sie zu einem grau gestrichenen Neubaukomplex kommen, in dessen Innenhof sich zwei Robinien in einem artifiziell verrosteten Metallkasten befinden. Dort ist STATION 12.