4. Station: Weißdorn

Maria-Ellenrieder-Str. 3

*Dieser Station zählt zur Ellenrieder-Str., weil der Hauseingang sich dort befindet. Station 4 selbst ist an der Gottlieber Straße.

Mats und Mara begegnen einer guten Fee und einer weisen Frau.

Einen langen Weg laufen die beiden Wurzelwichte. Mats wird sehr müde und Mara versucht, ihn ein Stückchen zu tragen. Aber ihr kleiner Bruder ist doch schon recht schwer, und es will ihr nicht gelingen. Ach, wäre doch Hermia, die freundliche Taube, da. Sie könnte sie ein Stückchen tragen. Aber wohin eigentlich? Erschöpft lassen sich die beiden auf dem Bordstein nieder.

Ein leichter Wind trägt einen kräftigen Duft zu den Wichten. Mats schnuppert, und Mara spürt eine federzarte Berührung an der Schulter. Was war das? Ihre Müdigkeit ist verflogen. Da spürt auch Mats die Berührung, und auch er ist mit einem Mal nicht mehr müde. Was ist das nur? Die beiden sehen sich suchend um. Da hören sie ein leises Kichern. Sie blicken in die Richtung, aus der das Kichern kam. Da sehen sie einen herrlich weiß blühenden Baum und viele, viele Insekten, die darin brummen und summen und sich über- und untereinander tummeln.
"Da", ruft Mara plötzlich.
"Was?"
"Na, da! Sieh doch!"

Inmitten der Blüten sehen sie eine zarte geflügelte Gestalt, durchscheinend fast. Ihr Kichern klingt wie ein kleines Glöckchen.
"Wer bist Du?" Die Wichte stehen mit aufgerissenen Augen da und bewunderen diese Gestalt.
"Ich bin die Hüterin."
"Was soll das bedeuten?"
"Ich bin eine gute Fee. Kein Unheil soll dem begegnen, der den Weißdorn achtet, denn er ist meine Wohnstatt. Ich habe gesehen, dass ihr müde wart und erschöpft. Da habe ich Euch mit dem Weißdorn berührt. Das nimmt die Müdigkeit weg."
Und als fiele sie in einen tiefen Schlummer, schließt sie die Augen und biegt den Hals in den Nacken. Aus der Tiefe der Zeit kommen Worte aus ihrem Mund:

"Du bist der Weißdorn.
Im Frühling kleidest du dich weiß.
Zur Zeit der Ernte aber kleidest du dich blutrot.
Das Rind zieht unter dir dahin und du rupfst ihm das Stirnhaar aus.
So rupfe auch von dem, der durch dein Tor hindurchgeht,
Böses, Unreines und den Zorn weg."

"Ein alter Spruch", meint die Fee versonnen und lauscht dem Klang der Worte nach.
"Der Weißdorn hat lange, spitze Dornen, an denen die Haare von Tieren, die unter ihm hergehen, hängenbleiben."
Sie schweigt einen Moment.
"Cliodhna nennt man mich", sagt sie dann, "und ihr seid Waldwichte. Das sehe ich gleich. Herzlich willkommen, ihr beiden. Ihr scheint eine lange Reise hinter Euch zu haben, aber ich sehe Euch an, dass die Reise, die Euch bevorsteht, noch viel länger ist. Deshalb ist es gut, wenn ihr hier unter dem Feenbaum Rast macht und Kraft schöpft. Kommt."

Mats und Mara klettern hinter der Fee her. Zwischen ein paar Zweigen bietet sie ihnen einen Platz zu sitzen an. Dann dürfen sie den süßen Nektar aus den duftenden Blütenkelchen des Weißdorns trinken. Wie wohl das tut!

Ein Mensch kommt vorbei. Mit Schwung steigt er von einem Gefährt mit zwei Rädern ab, das er neben einen kleinen Pfad, der zu einer Haustür führt, abstellt. Obwohl es nur zwei Räder hat, bleibt es doch stehen. Der Mensch holt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche, geht den Pfad entlang und schließt die Tür auf. Dann verschwindet er in dem dahinter liegenden Haus. Den süßen Duft des Weißdorns, die summenden Insekten und gar Cliodhna und Mats und Mara bemerkt er nicht.

Es ist so seltsam, hier zu sitzen, versunken in eine Welt, die schon immer dagewesen ist, doch nur eine Handbreit entfernt von einer, die es erst seit gestern gibt. Und außer den Wichten scheint das keiner zu bemerken. Mara seufzt. Um Cliodhnas Augen spielt ein leises Lächeln, kaum bemerkbar. In das Lächeln mischen sich eine große Traurigkeit und tiefes Wissen. Ihre Augen weiten sich und sehen durch die Zeit hindurch ins Dunkel der Anfänge.
"Ja", sagt sie schließlich und streichelt Mara über's Haar, "Du hast recht."
Hui, denkt Mara, die kann ja meine Gedanken lesen. Cliodhna gibt ihr einen Kuß:
"Natürlich kann ich das. Auch ihr beiden seid ja Wesen aus der alten Welt, aus der Welt, als Menschen noch kleiner waren, weniger wichtig. Ihr seid gewebt aus den Träumen dieser kleinen Menschen von damals. Genau wie ich."
Mats guckt verständnislos. Er weiß absolut nicht, was Cliodhna meint.
"Ist nicht so wichtig", Cliodhna nimmt Mats in den Arm.
"Wichtig ist, dass ihr jetzt hier seid und mit mir diesen Augenblick genießt."

Ein großes Tagpfauenauge setzt sich zu ihnen, ein Schmetterling mit dunkelroten Flügeln, in dessen Ecken farbige Muster wie große Augen starren.
"Schön, dass Du vorbeikommst", Cliodhna zwinkert dem Schmetterling zu. Der bewegt langsam, ganz langsam seine Flügel, während sein zarter Rüssel Nektar aus den Blüten des Weißdorns saugt. Um ihn herum flattern andere Schmetterlinge - gelbe Zitronenfalter und Kohlweißlinge mit kleinen schwarzen Flecken auf den Flügeln. Zwei kleine Füchse - orangefarbene Falter mit blau-gelb-schwarzen Mustern an den Flügelrändern - wirbeln umeinander herum, als ob sie tanzten. Oder stritten. Das ist echt schwer zu unterscheiden.
"Sie mögen sich."
"Bist Du da sicher?"

"Ja, das ist ganz sicher." Die rauhe Stimme einer alten Frau mischt sich in das Gespräch. Sie trägt ein mit Rosen bedrucktes Kopftuch und einen dunklen Mantel, der ihr bis zu den Fußknöcheln reicht. Ihr Gesicht ist so faltig wie ein verschrumpelter Apfel, aber ihre braunen Augen leuchten daraus lebendig und jung, als seien sie die eines Kindes. Sie lacht aus einem zahnlosen Mund:
"Das ist ganz sicher, Ihr beiden. Es ist Frühjahr und alle Tiere feiern das Leben. Die Vögel bauen ihre Nester, die Frösche legen ihren Laich, kleine Lämmchen und Zicklein werden geboren. Der Frühling ist das Leben selbst, das wieder erwacht nach langem Schlaf. Und so freuen sich auch die Schmetterlinge - bald werden sie Kinder bekommen, kleine Raupen, die gar nicht so aussehen wie die hübschen Flatterwesen, die hier über den Blüten tanzen."
Sie macht eine Pause.
"Ich bin übrigens Qamar."
"Und Du kannst uns sehen?" fragt Mats ganz aufgeregt.
"Na, aber sicher kann ich Euch sehen. Wie sollte man Euch nicht sehen können? Waldwichte sind doch nicht unsichtbar."
Mats sieht Qamar aufmerksam an.
"Die meisten Menschen können uns nicht sehen", sagt er bedächtig.
"Qamar ist ein besonderer Mensch." Cliodhna schwebt zu der alten Frau und setzt sich auf ihre Schulter.

"Ich komme aus einem fernen Land. Da ist viel Streit unter den Menschen. Sie tun einander weh. Deshalb habe ich mich trotz meines hohen Alters auf den Weg gemacht, einen neuen Ort zu finden, wo ich in Frieden leben kann. Und so bin ich hierher gekommen. Jeden Tag unterhalte ich mich mit Cliodhna. Wir kennen einander gut. Weißdorn wächst auch in meiner Heimat. Wir nennen ihn زعرور - manche wissen noch, es sind nicht viele, dass er ein Geschenk der Großmutter, Ammamma, ist. Es ist die Kraft der Ammamma, die den Weißdorn heilen lässt. Sie stärkt das Herz."

"Ammamma?" Mara versteht nicht.
"Ihr nennt sie Gaia."
"Gaia!?" ruft Mara aufgeregt, "Mutter Erde! -- Sie soll uns doch helfen, wieder in den Wald zu finden. Das hat die Kröte gesagt."
"Ich weiß", sagt die alte Frau, "ich weiß. Und ich will Euch helfen. Das Zeichen, das ich Euch schenke, ist eckig, so ganz anders als die Zeichen meiner Heimat, die eher rund sind. Mit vier Stöcken könnt Ihr es legen. Und wenn Ihr es auf den Kopf stellt, dann bedeutet es etwas anderes."

Noch während Qamar spricht, ist Mats eifrig dabei, Stöckchen aneinanderzulegen. Was kann man aus vier Stöcken nicht alles legen! Wenn man sich etwas Mühe gibt, gehen sogar runde Buchstaben wie O oder P. Das ist verwirrend. Welchen Buchstaben kann Qamar nur meinen?
"Versuch es weiter", sagt sie und für Mats klingt es wie im Traum.
"Versuch es weiter, versuch es."

Mats weiß nicht mehr, war das nun die Glöckchenstimme von Cliodhna oder der Reibeisenton, der aus Qamars zahnlosem Mund kam. Oder klang es erdig, so wie die Kröte unter der Wurzel ... Was hatte Qamar gesagt - man könne den Buchstaben umdrehen und dann bedeute er etwas anderes. O kann man umdrehen, aber dann bedeutet es immer noch O. Wenn man P umdreht kommt d heraus. Aber das ist ein bisschen geschummelt... Es muss noch einen anderen Buchstaben geben. Oder vielleicht zwei. Morgen. Morgen würde er das Rätsel lösen. Oder Mara würde es lösen. Einer von ihnen würde es .... Aber bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, war er schon eingeschlafen.


Links hinein ist man dann mitten auf der Ellenrieder-Straße und findet dort auf der linken Seite neu gepflanzte Zieräpfel und die STATION 5.