5. Station: Zierapfel
Maria-Ellenrieder-Str. 5-11
Mats träumt von einer Karawane, Mara sieht einem Maler zu
Mats schläft unruhig. Er wirft sich hin und her, findet aber keine Ruhe. Die Begegnungen mit der Fee Cliodhna und Qamar, der weisen Syrerin, haben ihn aufgeregt. Zwar bewohnt er selbst eine Welt, die den meisten Menschen verborgen bleibt, doch kaum zuvor kamen sich Sichtbares und Unsichtbares so nah. Feen in einem Vorgarten zu treffen, ist schon merkwürdig genug, aber kurz danach einem Menschen zu begegnen, der sie sehen kann, das ist schon allerhand. Der betörende Duft des Weißdorns verwirrt seine Sinne. Hat er das wirklich erlebt? Oder war das ein Traum?
Mats schaut über eine weite staubige Fläche. Er sieht Sand, Geröll, Felsen. Doch es duftet noch immer, als säße er mitten in einem Blütenmeer. Am Horizont erhebt sich eine Staubwolke. Da kommt jemand. Oder etwas. Wer mag das sein? Wo ist Mara? Nirgends kann er seine große Schwester finden. Die Staubwolke wird größer, kommt näher. Mats erkennt einzelne Gestalten. Große Tiere, die er noch nie gesehen hat. Sie bewegen sich langsam schaukelnd, auf ihren Rücken erheben sich Höcker. Menschen in langen bunten Gewändern reiten auf den Tieren oder laufen neben ihnen her. Die meisten haben Tücher um die Köpfe geschlungen, die nur die Augen frei lassen. Die großen Tiere tragen Kisten und Säcke. Inzwischen sind sie ganz nah. „Zur Oase ist es nicht mehr weit“, sagt ein älterer Mann zu einem Jungen, der noch recht klein und müde wirkt.
Mats beschließt, dem langen Zug zu folgen. Die Luft flirrt vor Hitze. Dann taucht mitten im Staub ein herrlicher Garten, umgeben von einer weißen Mauer auf. Palmen sieht Mats und Brunnen. Die Menschen trinken und waschen sich. Auch die Tiere dürfen sich ausruhen. Nun kann Mats erkennen, was die Tiere tragen. Da sind ungewöhnlich riechende Gewürze, rot, braun, gelb, getrocknet oder feinkörnig gemahlen. In der Sonne strahlende Stoffe blitzen aus großen Ballen hervor. Mats sieht getrockenete Früchte. Der Zug ist weit gereist. Er kommt aus einem Land, das die Menschen „China“ nennen, viele Tage und Wochen entfernt von dem Garten, in dem sie jetzt auf Teppichen sitzen und Tee aus langhalsigen Metallkannen in kleine, bunt gefärbte Schalen gießen. Ein kleiner grüner Apfel rollt aus einem Korb. Vögel fliegen herbei und beginnen, an ihm zu picken. Sie sind hungrig und picken alles auf. Auch die Kerne. „In den Wäldern“, hört Mats einen kleinen Jungen zu einem anderen sagen, „fressen die Bären die Äpfel.“ „Bääärenscheisssse!!“ schreien beide gleichzeitig und rennen lachend davon.
Als Mats sich umdreht, steht er in einem Wald voller Äpfel. Der Garten, die Wüste und die Menschen sind verschwunden. Mats pflückt einen Apfel. Er ist ganz klein schmeckt säuerlich, ein wenig bitter. Er beisst in einen anderen und der ist saftig und süß. Jeder Apfel scheint hier anders zu schmecken. Und es sind sooo viele.
"Na? Ausgeschlafen?" Das zahnlose Lächeln der weisen Qamar ist das
erste, was Mats sieht, als er im Weißdorn aufwacht.
„Wo sind die Äpfel?“ will er wissen.
„Die Äpfel?“ Qamar lacht. „Du warst in Almaty?“
„Almaty?“
„Ja, der Stadt der Äpfel. In der alten Welt wuchsen die
wohlschmeckendsten Äpfel in Kasachstan. Bären und Vögel haben ihre
Kerne verbreitet, Menschen bauten die süssesten Sorten an. In
Syrien, meiner Heimat, trafen dann die Römer auf die Äpfel. Römische
Soldaten brachten sie bis in den Norden. Hierher.“
„Wo ist Mara?“
„Komm“, sagt Qamar, „Mara war es langweilig. Sie ist schon etwas
weiter gegangen. Ich habe gesagt, dass ich mit Dir nachkomme, sobald
Du wach bist.“
Mats klettert auf Qamars Schulter. Gemeinsam gehen sie langsam wiegend los. Da fällt Mats etwas ein. Er dreht sich um und ruft „Cliodhna! Cliodhna!!“ Die Fee lässt sich nicht blicken, doch Mats hat das Gefühl, als würde der ganze Weißdorn lächeln. Mats winkt und es scheint ihm, als sende das Blütenweiß einen Gruß zurück. Qamar ist stehen geblieben. Jetzt geht sie weiter. Mats weht der Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase. Doch noch während er tief einatmet, verpesten die Abgase eines Autos die Luft. Eines. Und noch eins. Und wieder eins. In schneller Folge fahren Wagen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Formen und Farben an ihnen vorbei. Mats muss husten. Er schmiegt sich eng an den Hals von Qamar, die ihn vorsichtig mit ihren brauen, faltigen Fingern streichelt. Das fühlt sich rauh an, aber warm und geborgen.
„Warum fahren die Menschen Autos?“
„Um schneller zu sein. Um niemals warten zu müssen. Weil sie nur das
Ankommen schätzen, nicht aber den Weg“, murmelt Qamar.
„Aber das stinkt.“
„Ja, und es ist giftig. Die Abgase der Autos vergiften die Luft, die
sie und alle anderen Lebewesen zum Atmen brauchen.“
„Wissen das die Menschen denn nicht?“
„Doch, das wissen sie. Aber den meisten ist es egal. Das Gift wirkt
so langsam, dass sie es kaum spüren. Und deshalb tun sie auch
nichts.“
„Man muss es ihnen sagen!“ Qamar nimmt den kleinen Wicht auf die
Hand.
„Ja“, meint sie, „das muss man. Und es gibt auch Menschen, die das
tun.“ Mats seufzt.
„Werden die anderen Menschen auf sie hören?“ Anstelle einer Antwort
gibt Qamar Mats einen kleinen Kuss auf die Wange.
„Schau“, sagt sie, „da ist Mara.“ Und wirklich: unter einem kleinen,
über und über mit weiß-rosa Blüten besetzten Baum sitzt seine
Schwester.
„Mara!“ schreit Mats und läuft auf sie zu. Mara freut sich, Mats zu
sehen, aber sie legt einen Finger auf die Lippen. Stumm weist sie
auf einen jungen Mann in einer braunen Cordjacke. Der sitzt auf
einem kleinen Hocker und hält einen Zeichenblock in der Hand. Unter
den geschickten Bewegungen seines Bleistifts entstehen die Blüten
des Baumes.
„Er ist Engländer, hat er erzählt.“ Mats ist beunruhigt. Kann er sie
denn auch sehen? Mara beruhigt ihn.
„Sehen kann uns, wer aufmerksam ist und achtsam und sich Zeit nimmt.
Sehen kann uns der, der die Welt so anschaut, wie wir sie ansehen.
Wer in einem großen Auto oder auch auf einem Fahrrad vorbeirast,
kann uns nicht sehen. Wer versunken seine Einkaufstaschen schleppt,
wird uns nicht entdecken. Aber dieser Mann hier ist Maler.“
Mit einem Lächeln wendet sich der Mann ihnen zu.
„Hallo,
Qamar!“ sagt er.
„Hallo, John“, Qamar lächelt zurück.
„Was ist ein Engländer?“ fragt Mats. John muss laut lachen.
„Das weiß ich auch nicht so genau.“ Mats ist irritiert.
„Aber Du bist doch einer, sagt Mara.“ Um seine Lippen spielt
ein wenig Trotz.
„Ja, schon. Ich komme aus England. Dort wurde
ich geboren. Dort bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen. Doch
jetzt lebe ich hier. Ich wollte einmal etwas anderes sehen und bin
zum Studium nach Konstanz gekommen.“
„Studium? Was ist das?“
„Ach“, mischt sich Qamar ein, „das ist
eine Schule für junge Erwachsene.“
„Ja“, lacht John, „und ich lerne da zeichnen und malen.“ Mara guckt
verträumt:
„Das würde ich auch gern lernen. Wo ist diese
Schule?“
„Nicht weit von hier“, sagt John. Dann wendet er sich
wieder seiner Zeichnung zu. Mit feinen schnellen Bewegungen huscht
der Bleistift über das Papier. Hier entsteht ein Blatt. Man kann
genau erkennen, wo es sich wölbt. Man sieht die Löcher, die Insekten
hineingebissen haben. Und obwohl die Zeichnung nur grau auf weißem
Papier ist, kann man die unterschiedlichen Färbungen der Blätter
erkennen. Das ist wirklich schön! Die Waldwichte sind begeistert.
„Wenn ich genau hinschaue, verstehe ich die Dinge“, sagt
John.
„Ich lass Euch mal allein“, meint Qamar und drückt John die Hand.
„Vergesst nicht den letzten Buchstaben“, sagt sie zu den
Waldwichten. „Nehmt ihn mit. Er führt Euch ein wenig näher nach
Hause. Ich aber muss mich ein wenig setzen und einen Kaffee
trinken.“ Mit diesen Worten streicht sie den Wichten ein letztes Mal
über die Wangen und überquert dann die Straße. Richtig, denkt Mats,
da roch es ja so gut nach Brot. Er winkt Qamar nach.
„Warum hast Du Dir diesen Baum ausgesucht?“ fragt Mara. „Da drüben
sind doch noch soviele andere, die auch schön blühen.“ Sie zeigt auf
eine Reihe alter Apfelbäume gleich in der Nähe. „Er erinnert mich an
Zuhause“, antwortet John. „In England gibt es viele dieser kleinen
Zieräpfel.“
„Ach“, wundert sich Mats und bohrt verlegen in der Nase,
„das ist gar kein richtiger Apfel?“
„Doch, doch. Das ist schon
ein richtiger Apfel. Seine Früchte sind nur viel, viel kleiner. Man
kann sie aber auch essen. Vor fast siebzig Jahren hat ein berühmter
Gärtner diese Apfelsorte in England gezüchtet. Die typischen Gärten
der meisten Menschen in England sind sehr klein und bieten wenig
Platz. Charles Notcutt dachte sich also, dass ein Apfelbaum, der
wenig Platz braucht, schöne Blüten trägt, essbare Früchte und vielen
Krankheiten und Schädlingen Stand hält, genau das Richtige wäre für
kleine Gärten. 'Red Sentinel', 'roter Wächter', nannte er diesen
Baum. Im Herbst weiß man genau, warum. Dann leuchten die kleinen
Äpfel weit. Man kann sie ernten und Marmelade daraus machen oder
scharfe Soßen.“
Scharfe Soßen sind nichts für Mats und Mara.
Mats verzieht angewidert den Mund.
„Ich will wieder in den
Wald“, flüstert er seiner Schwester zu.
„Wir müssen jetzt
gehen“, sagt Mara höflich zu John.
„Ich verstehe“, sagt John,
„vergesst nicht, den Buchstaben mitzunehmen, wie Euch Qamar geraten
hat.“
„Hmm“, grübelt Mara, „den letzten Buchstaben.“
„Das ist einfach“, sagt Mats. „Das ist ein 'L' wie in Apfel.“
„Oder sie meinte den letzten Buchstaben des Alphabets – das wäre
dann ein 'Z'.“
„Ui“, grübelt Mats, „das ist schwierig. Wie
kriegen wir das jetzt raus?“
Mats und Mara folgen der Maria-Ellenrieder-Straße geradeaus, überqueren die Mosbruggerstraße bis zur Kreuzung mit der Wallgutstraße. Dort wenden sie sich nach links, gehen über die Straße, sehen zwischen den quer zur Straße gebauten Häusern des Morinckwegs 1-3 und 2-4 drei alte Tannen und einen Spielplatz. Die STATION 6 befindet sich bei den frisch gepflanzten Schnurbäumen der Morinckweg selbst ist parallel zur Wallgutstraße ein schmaler Weg zwischen den Häusern.