7. Station: Winterlinde
Wallgutstr. 16-18
Mats und Mara lernen, dass auch Bäume in die Schule gehen.
„Die sind aber klein“, sagt Mats. Linden hatte er sich einfach
größer vorgestellt.
Winterlinden
können über 1000 Jahre alt werden. Das hatte ihm seine Großmutter
erzählt. Ganz schön alt. Wie alt werden Waldwichte? Hmm. Mats hatte
noch nie darüber nachgedacht. Spielte Alter bei Wesen wie Wichten
eine Rolle? Er wusste es nicht. Etwas ratlos wandte er sich wieder
den Linden zu. Zwei schmale Bäumchen, mit einem Strick an ein Gerüst
aus drei Holzpfählen und ebensovielen Latten gebunden. Können die
nicht alleine stehen?
„Ach“, säuselt es da. Mats und Mara spitzen die Ohren. So, das
wissen sie, spricht nur ein Baum.
„Ach, ihr Wichte. Ihr kennt wohl nur den Wald. Ja, im Wald, da geht
es Bäumen anders als hier in der Stadt.“
„Der Wald“, flüstert Mara, „ist auch nicht mehr das, was er mal war.
Hat Oma immer gesagt.“
„Ja, das stimmt vielleicht. So genau weiß ich es nicht“, sagt die
eine Linde, „In der Baumschule haben sie uns nichts davon erzählt.
Oder weißt Du etwas, Balduin?“
„Nein, Begina, vom Wald haben sie uns wenig erzählt. Wir mussten
lernen, unsere Wurzeln ganz krumm und rund zu machen, damit wir
leicht ausgegraben, transportiert und neu eingepflanzt werden
konnten.“
„Ja, das haben wir lange geübt. Immer wieder haben sie uns
ausgegraben. Und an anderer Stelle wieder eingepflanzt. So hatten
unsere Wurzeln nicht die Möglichkeit, sich auszubreiten, weder in
die Breite noch in die Tiefe. Sie wuchsen klein und rund.“
„Und auch unsere Äste wurden immer wieder gestutzt und geschnitten.
Wieder und wieder.“
„Bis wir dann auf einen Lastwagen geladen wurden... “
„Genau wie wir“, flüstert Mats. Mara nickt. Sie denkt an die
schreckliche Nacht, in der ihre Eiche umgefallen ist, der Baum, in
dem sie seit ihrer Geburt gelebt haben. Und wie sie dann in die
Stadt gefahren sind auf der rumpeligen Ladefläche eines Lastwagens.
Oh je. Seitdem sind sie hier. Mara seufzt. Aber dann hört sie wieder
den Linden Balduin und Begina zu. Ein Wind fährt durch ihre schmalen
Kronen. Die Wichte hören die Bäume leise ächzen.
„Aaah. Ja und dann“, fährt Begina fort, „wurden unsere Kronen wieder
geschnitten. Viele Äste schnitten uns die Menschen ab.“
„Tut das nicht weh?“ fragt Mara.
„Es sind Wunden, ja, aber Schmerz fühlen wir anders als Menschen
oder Tiere. Natürlich hätten wir unsere Äste gern behalten. Aber wir
wussten aus der Baumschule, dass unsere kleinen, runden Wurzelpakete
nicht so viele Äste versorgen können, bevor wir wieder schön
angewachsen sind. Deshalb war es gut, ein paar Äste zu verlieren.
Diejenigen, die blieben, kriegen so genügend zu essen und zu trinken
und können stark und kräftig wachsen.“
„Ja, das hoffen wir“, seufzt Balduin, „das wünschen wir uns sehr.
Viele Bäume in der Stadt, hören wir, werden nicht besonders alt.
Hundert Jahre, ja, das wäre einmal ein Anfang. Die meisten Bäume
hier sind kaum halb so alt.“
Eine weiße Plastiktüte fliegt vorbei und verfängt sich in einem
naheliegenden Busch. Auf dem Gehweg liegt eine leere Dose aus Metall
und kleine weiß-gelbe Stängelchen oder Tütchen. Die Waldwichte
wissen nicht, was das ist.
„Die Stadt ist anders“, sagt Begina gerade, „Wir lernen sie auch
gerade erst kennen. Es gibt hier Insekten. Es gibt hier Vögel. Es
gibt Tiere. Manche von ihnen scheinen mit den Menschen
zusammenzuleben. Ja, die Menschen ... Hauptsächlich gibt es hier
Menschen. Viele, viele, viele davon. Große und kleine, dicke und
dünne, blonde und schwarzhaarige, alte und junge, Menschen mit
heller und Menschen mit dunkler Hautfarbe. Menschen, Menschen,
Menschen. Daran muss man sich am meisten gewöhnen.“
„Naja“, wendet Balduin ein, „auf der Baumschule gab es auch
Menschen.“
„Ja“, antwortet Begina, „schon. Aber nicht so viele. Das waren
Vertraute, die wir jeden Tag sahen. Hier sehen wir Tag für Tag
andere Gesichter.“
„Aber hast Du den alten Mann gesehen?“ fragt Balduin, „Der kommt
jeden Tag her. Jeden einzelnen Tag. Er kann nicht mehr so gut gehen.
Und dann sind da die beiden kleinen Mädchen, die gehen immer lustig
plaudernd an uns vorbei. Zuerst ganz früh morgens und dann um die
Mittagszeit. Sie scheinen immer schwere Dinge in kleinen bunten
Taschen auf dem Rücken zu tragen.“
„Abends sehe ich manchmal ein paar Jugendliche. Die geben immer an.
Die Jungs besonders. Ich glaube, sie wollen den Mädchen gefallen.“
„Den Mädchen gefallen?“ fragt Mats. „Wieso denn das?“
„Tja“, sagt Balduin, „das ist bei den Menschen so. Irgendwann wollen
Jungs Mädchen und Mädchen Jungs gefallen. Und manchmal Jungs Jungs
und Mädchen Mädchen.“ Mara kichert.
„Blöd“, sagt Mats.
„Dafür bist Du noch zu klein“, sagt Mara.
„Aber Du?!“ schimpft Mats.
„Nun streitet nicht“, wirft Begina beruhigend, aber bestimmt ein.
Alle werden still, hängen ihren Gedanken nach.
„Ach ja“, seufzt Balduin nach einer Weile. „Bäume haben es nicht so
leicht in der Stadt. Der meiste Boden lässt kein Wasser durch. Und
andere Bäume fehlen auch. Manche Tiere gibt es hier nicht, die wir
bräuchten.“
„Aber es gibt Menschen hier, die sich um uns
kümmern“, wendet Begina ein.
„Ja“, Balduin bewegt leicht die Äste. Fast sieht es aus, als ob er
mit dem Kopf nickte.
„Ja, Gärtner kommen vorbei mit Wasser und
kräftigender Nahrung. Dünger heißt die.“
„Aber ob wir mal so alt werden, dass wir spielenden Kindern Schatten
spenden?“
„Oder so dick, dass sich zehn Kinder an den Händen fassen müssen, um
unseren Stämme zu umfassen?“
„Ich habe gehört, dass das nur noch wenige Bäume in der Stadt
schaffen.“
„Bäume sind eigentlich erst mit hundert Jahren so richtig
erwachsen.“
„Komm“, sagt Balduin, „wir geben Euch ein 'E' mit, unseren letzten
Buchstaben. Wurzelwichte werden alt. Sehr alt. Kommt wieder.“
„Ja“, schließt sich auch Begina an, „kommt uns bitte, bitte
besuchen.“
„Aber“, so fügt sie hinzu, „wartet keine 100 Jahre.“ Mats rollt das
Blatt mit dem 'E' ein und Mara streicht sanft über die glatte Rinde.
„Macht's gut.“
„Ihr auch.“
Mats und Mara folgen der Wallgutstraße noch ein kleines Stück stadteinwärts und biegen dann links in die Zasiusstraße ab. Dieser folgen sie über den HTWG-Campus bis zum Seerhein.
Am Seerhein wenden sie sich nach rechts und gehen über die Fahrradbrücke über den großen Fluss. Auf der anderen Seite des Flusses gehen sie geradeaus, passen gut auf an der Ampel, die über die Bundesstraße 33 in die Petershauser Straße führt.
Sie gehen auf der linken Seite die Petershauser Straße hinauf und landen an der Abbiegung in die Markgrafenstraße vor einem Nagelstudio. Dort befindet sich die STATION 8.