8. Station: Weißdorn

Petershauser Str. 21

Mats und Mara entfliehen mit einem Mauersegler der verbrauchten Stadtluft und betrachten die Welt von oben.

Mats und Mara laufen müde die Straße entlang, sie sind den weichen Waldboden gewohnt und von dem harten Asphalt schmerzen ihre nackten Füße. Fahrräder sausen an ihnen vorbei, Autos brausen, Fußgänger hasten. Aber wie gewohnt nimmt niemand von den Wurzelwichten Notiz. Die beiden wollen endlich nach Hause. Sie haben wunderbare Bäume, Tiere und Menschen kennengelernt, viel Neues und Spannendes gesehen - und dennoch: Die Sehnsucht nach dem Wald quält Mats und Mara sehr. Gerade jetzt, da sie müde sind.

Mats zählt die Baumblätter auf seinem Rücken - sieben Stück sind es schon, fünf brauchen sie noch. Mara hustet.
“Komm, lass uns eine Pause machen”, sagt Mats. Jetzt, da es Mara nicht gut geht, ist er es, der sich um die große Schwester kümmert.
Die beiden Wurzelwichte setzen sich in einen Vorgarten unter einen kleinen Weißdorn-Baum, um sich auszuruhen.

Beim letzten Weißdorn, den sie in der Stadt trafen, haben sie die Fee Cliodhna kennengelernt. Dieses Mal erwartet sie jedoch keine Fee. Ein Auto fährt vorbei und hüllt die Wurzelwichte in eine Abgaswolke. Mara muss noch mehr husten.

Der kleine Weißdorn meldet sich zu Wort.
“Ich gebe mein Bestes, aber heute fahren besonders viele Autos die Straße entlang, ich glaube, es gibt eine Umleitung...”
"Was meinst du damit, du gibst dein Bestes?” fragt Mats.
“Ich reinige die Luft”, antwortet der Weißdorn.
“Deine Schwester hustet wegen der Abgase. Für Menschen sind die Abgase zwar auch nicht gesund. Aber für euch kleine Wurzelwichte ist die Stadtluft noch viel schwerer zu verdauen.”

Mats und Mara denken an die Luft in ihrem Wald. Die riecht ganz anders als die Stadtluft. Sie besitzt jeden Tag einen anderen Geschmack, manchmal süß, voller Blütenduft, manchmal würzig. Beim Einatmen können die Wurzelwichte sogar riechen, was die Bäume sich erzählen, wenn sie Tiere um Hilfe rufen oder einfach nur Neuigkeiten austauschen, weil sie über Duftstoffe miteinander reden. Und immer fühlt sich das Einatmen im Wald so ähnlich an, als würde man frisches, klares Wasser trinken.

Aber dass es die Bäume sind, die die Luft “sauber” machen, darüber hatten Mats und Mara nie nachgedacht. Schließlich gibt es im Wald ja auch kaum Abgase und Maschinen. Plötzlich erinnert sich Mara an eine Begegnung hier in der Stadt.
“Weißt du noch Mara, der Schnurbaum hat uns doch erzählt, dass er mithilft, damit die Erderwärmung nicht allzu schlimm wird. Hat das etwas mit dem Luftreinigen zu tun?”
Belehrend meldet sich ein Zierapfel zu Wort, der neben dem Weißdorn wächst und lange in einer angesehenen Baumschule war:
“Genau das hat es! In Japan werden die Menschen sogar von den Ärzten in den Wald geschickt, wenn sie krank sind.”
“Genau, die gehen Waldbaden”, meint der Weißdorn. “Shinrin Yoku heißt das auf Japanisch.”
Mara atmet etwas leichter.
“Danke, gerade fühlt sich die Luft tatsächlich wieder besser an. Wie macht ihr das mit dem Luftsäubern?”
Da weiß natürlich der gebildete Zierapfel Rat:
“Das ist wegen dem CO2...”
“Zehn-Uhr-Brei?”, fragt Mats verständnislos. Der Zierapfel seufzt.
“Chemie lernt ihr im Wald wohl nicht, was? Also...Menschen und Tiere brauchen frische Luft zum Atmen. Aber die Luft, die sie dann wieder ausatmen, die ist nicht mehr frisch. Da entsteht dasselbe Gas, das auch bei den Autos hinten rauskommt. Autopups sozusagen. Und wir Bäume, wir können mit unseren Blättern und ein bisschen Sonne und Wasser frische Luft daraus machen...”

Wieder fahren einige Autos vorbei. Mara hustet von neuem.
“Aber hier in der Stadt gibt es wohl nicht genug Bäume, um frische Luft zu machen, oder?” fragt Mats und beginnt ebenfalls zu husten.
“Ja, leider. ” meint der Weißdorn. “Aber ich habe eine Idee, was euch helfen könnte. Ich kenne da jemand, der sich noch besser in der Luft auskennt als wir Bäume, jemand der sein ganzes Leben in der Luft verbringt...”

Kaum gesagt, schwirrt ein pfeilschneller Vogel herbei und greift Mats und Mara im Flug mit seinen beiden Füßen. Hoch fliegt er über die Stadt hinaus und immer höher, Mats und Mara waren noch nie so weit oben.
“Das ist mein Zuhause”, lacht der Vogel, während er mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Lüfte schießt.
“Ich bin ein Mauersegler und wir Mauersegler sind nur zum Brüten auf der Erde.”
“Und wie schläfst du?” fragt Mats.
“Auch in der Luft... Wir können bis zu zehn Monate fliegen ohne ein einziges Mal zu landen.” Mats und Mara raunen bewundernd -
“Das ist ja fast ein ganzes Jahr!”

Immer weiter fliegt der Mauersegler nach oben, der Weißdorn, der Zierapfel, die Häuser, alles wird klitzeklitzeklein, bis die Stadt nur noch als ein bunter Fleck an einem großen blauen Fleck zu erkennen ist. Grüne Flecken gibt es auch.
"Einer davon ist euer Wald”, sagt der Mauersegler. Mats und Mara staunen, so haben sie die Welt noch nie gesehen. Irgendwann hört der Mauersegler auf mit den Flügeln zu schlagen und lässt sich von den Winden tragen.
“Viel weiter kann ich nicht,” sagt er, “dann wird die Luft nämlich auch schon dünner und der Weltraum beginnt. Könnt ihr denn jetzt besser atmen?”
Mats und Mara gucken nur, sagen können sie nichts, so überwältigt sind sie und schwindelig ist ihnen auch. Mara hat aufgehört zu husten, die Luft ist tatsächlich viel klarer hier oben.

“Die Menschen haben Flugzeuge, die können noch viel, viel weiter fliegen. Auch dorthin, wo wir nicht mehr atmen können - in den Weltraum bis zu den Sternen.” erzählt der Mauersegler.
“Ich habe einmal zwei Astronauten belauscht. Die haben hier am Bodensee Urlaub gemacht und saßen auf einer Bank am See und haben sich unterhalten. Die sind bis zum Mond geflogen und haben von dort aus gesehen, wie die Erde als blaue Kugel im Weltall schwebt. Und sie haben von einem ganz besonderen Gefühl erzählt, das alle Astronauten haben, wenn sie das erste Mal unsere Erde als Ganzes sehen.”
“Was hatten sie für ein Gefühl?” fragt Mats.
“Sie sind überwältigt, wie schön er ist, unser Planet. Sie begreifen, dass alles Leben auf der Erde verbunden ist, Menschen und Bäume und Tiere und Steine und ...“
“Wurzelwichte”, fügt Mara hinzu.
Der Mauersegler erzählt weiter.
“Und gleichzeitig sehen sie, wie zerbrechlich die Erde ist. Sie sehen, dass es nur eine ganz dünne Schicht von Luft ist, die unsere Erde umgibt und das Leben möglich macht. Und dass die Menschen die Verantwortung haben diese Erde zu schützen, für uns alle.”
“Gaia”, flüstert Mats, “sie sehen Gaia als Ganzes.”
“Genau”, sagt der Mauersegler, “Sie nennen es nur anders.”
“Schade, dass nicht jeder Mensch diese Erfahrung machen kann. Oder jeder Wurzelwicht. Oder jeder Baum.”
“Ich habe aber auch schon ein Kribbeln im Bauch, wenn ich mir das nur vorstelle, wie die Erde langsam um die Sonne tanzt...” sagt Mara.

Langsam, in großen Kreisen lässt sich der Mauersegler wieder nach unten gleiten und setzt Mats und Mara sanft in der Krone des Weißdorns ab. Die beiden Wurzelwichte gähnen.
“Frische Luft macht müde”, belehrt sie der naseweise Zierapfel. Aber das hören Mats und Mara schon nicht mehr, sie sind zwischen den duftenden Blüten des Weißdorns eingeschlafen.
Und so lässt der Weißdorn sanft ein Blatt auf sie hinunterwehen. Ein “N” steht darauf geschrieben.
“Nehmt meinen letzten Buchstaben mit und grüßt mir den Wald”, flüstert der Weißdorn leise, um die Wurzelwichte nicht aufzuwecken.


Über eine Ampel kommen Mats und Mara in die Martin-Venedey-Straße, die zum Treffpunkt Petershausen führt. Die erste Straße links biegen sie ab und folgen ihr bis zu einem kleinen Spielplatz. Dort befindet sich die STATION 9.