9. Station: Japanischer Schnurbaum
Ernst-Bärtschi-Weg 8-10
Mats und Mara und das weltweites Wurzelnetzwerk
Mauersegler fliegen über der Stadt, jagen nach Insekten und erfüllen
die Luft mit ihrem hohen “sriiihrr”-Rufen. Mats und Mara sehen den
Vögeln hinterher. Ach, wenn sie doch auch wie die Mauersegler
einfach fliegen könnten, dann wären sie ganz schnell zurück in ihrem
Wald. Mara kehrt mit ihren Gedanken wieder auf den Erdboden
zurück.
“Komm Mats, wir haben das Zauberwort ja fast schon zusammen!”
“Fast? Das sind noch einige Buchstaben, die uns fehlen”, jammert
Mats.
“Guck mal, da hinten, über der Straße sind richtig viele Bäume! Fast
schon ein kleiner Wald! Lass uns die mal fragen!” schlägt Mara
vor.
Die beiden Wurzelwichte huschen den Gehweg entlang, warten bis kein
Auto kommt, dann trippeln sie in Windeseile über die Straße.
Angekommen bei den Bäumen rast eine lange eiserne Schlange an ihnen
vorbei: “Ratatatatatta!” Mats und Mara verstecken sich schnell
hinter einem kleinen Baum.
“Was ist das? Ein Auto, das auf Schienen fährt?” meint Mats
entgeistert. Neben ihnen stülpt sich ein Erdhaufen nach oben und ein
kleines, schwarzes Köpfchen bahnt sich den Weg ins Freie, mit einer
langen nackten Schnauze und Augen so klein wie Stecknadelköpfen:
ein Maulwurf.
“Wenn ich mich da einmischen dürfte”, quiekt der Maulwurf.
“Gestatten, ich bin geprüfter Erdreich-Tourismus-Führer, Rudi mein
Name. Das Gefährt, das ihr betrachtet, ist ein Zug. Aber viel
spannender ist doch die Welt untertage, wenn ihr möchtet könnte ich
gerne eine kleine Führung....”
Mara unterbricht den redseligen Maulwurf höflich.
“Wir sind auf der Suche nach Bäumen, die uns weiterhelfen können.
Wir möchten nämlich zurück in den Wald.”
Wurzelwichte heißen zwar Wurzelwichte, allerdings leben sie trotzdem
übertage und kümmern sich um den Teil ihres Baumes, der über der
Erde liegt. Mit ihren feinen Wurzelwichtohren hören sie das
geschäftige Wispern und Flüstern der Wesen unter der Erde, aber
selbst waren noch nie da unten.
“Ich kann nur betonen, dass für einen Kurzurlaub die Welt unter
Tage...”
“Wirklich nicht”, sagt Mats. Etwas beleidigt gräbt sich der Maulwurf
wieder ein.
Der Baum, unter dem sich die beiden Wurzelwichte versteckt haben,
ist ein
Japanischer Schnurbaum, wie Mats und Mara inzwischen wissen, ein “Klimawandelbaum”. Er
meldet sich knarrend zu Wort.
“Was möchtet ihr denn wissen, kleine Wurzelwichte?” Mats stellt
seine Rückentasche auf den Boden. In ihr trägt er die Baumblätter
mit den Buchstaben, die schließlich das Zauberwort ergeben
sollen.
“Wir suchen einen Buchstaben”, sagt Mara zum Schnurbaum. Doch noch
ehe Mara zu Ende sprechen kann, stößt Mats einen erschreckten Schrei
aus.
“Mara! Unsere Blätter!” Mara blickt auf den Boden und sieht gerade
noch das letzte der Blätter, das Weißdornblatt mit dem “N” darauf,
wie von Geisterhand gezogen im Erdboden verschwinden. Weder Mats
noch Mara haben sich die Buchstaben auf den Blättern gemerkt. Mats
und Mara versuchen sich in den kleinen Gang zu quetschen, erfolglos.
Verzweifelt stehen die Wurzelwichte da – was nun? Sie legen ihre
Ohren auf den Erdboden und horchen.
“Ein Regenwurm”, flüstert Mats.
Erde wirbelt auf, Maulwurf Rudi taucht wieder auf.
“Genau ein Regenwurm!” bestätigt er. Mats und Mara wischen sich die
Erde aus dem Gesicht.
“Regenwürmer lieben Laubblätter, das ist ihre Leibspeise, sie ziehen
sie unter die Erde und dann...” Der Maulwurf macht ein genüsslich
schmatzendes Geräusch.
“Oh nein.” Mats und Mara wird ganz anders zumute bei der
Vorstellung, dass der Regenwurm ihre Blätter aufisst.
“Könntest du uns einen Gang hinterhergraben?” fragt Mara den
Maulwurf.
“Ich wusste doch, dass ihr gerne eine Führung haben möchtet”, meint
Rudi begeistert und beginnt sofort zu graben. Mats und Mara krabbeln
hinterher, den schmalen Tunnel entlang, den Rudi für sie gräbt. Mit
seinen großen Grabschaufeln sieht es fast so aus, als ob der
Maulwurf durch das Erdreich schwimmen würde. Eigentlich ist es
untertage natürlich stockdunkel. Aber Mats und Mara haben das Glück,
als Wurzelwichte zumindest ein kleines bisschen sehen zu können,
trotz Dunkelheit.
"Hier haben wir besonders schöne Erde, krümelig, weich, so mag ich
das, perfekt zum Graben.” Der Maulwurf hält an und wartet auf Mats
und Mara. Mats und Mara lauschen all den unzähligen Stimmen und
Geräuschen, die sie zuvor über der Erde nur wie einen bunten
Klangteppich unter sich wahrgenommen haben.
„Hm, leckerschmecker!“ Ein klitzekleines, reiskorngroßes Tierchen
mit sechs Beinen krabbelt an ihnen vorbei, vollführt vor Freude
einen kleinen Hüpfer und macht sich über eine tote Wurzel her.
“Das ist ein
Springschwanz” erklärt der Maulwurf, “die sind ganz wichtig, weil sie die
Pflanzenabfälle so klitzeklein machen, dass sie wieder zu
fruchtbarer Erde und damit zu neuer Nahrung werden.” Doch nicht nur
die Springschwänze sind damit beschäftigt, sondern noch viele andere
Winzlinge. Spinnen,
Kellerasseln,
Milben,
Tausendfüßler
- die Erde wuselt voller Lebewesen.
Der Maulwurf setzt wieder an zu einem Vortrag: “Besonders wichtig
sind dabei die
Regenwürmer, nicht nur, dass sie für uns Maulwürfe unbeschreiblich lecker
sind. Nein, durch ihr Graben belüften sie die Erde, sie sind
sozusagen die Klimaanlage des Bodens.“
Mara muss an ihren Ausflug in den Himmel denken. Dass auch der Boden
Luft braucht, daran hätte sie gar nicht gedacht.
“Außerdem ist Regenwurmkacka der beste Dünger für den Boden. Früher
haben die Menschen geglaubt, dass Regenwürmer schädlich sind,
inzwischen züchten sie sogar welche, und man kann sie kaufen.”
Der Maulwurf schwelgt weiter in seiner Regenwurm-
Begeisterung.
“Sie fressen auch Samen von der Erdoberfläche und bringen sie so
unter die Erde und zum Keimen...”
Mats und Mara haben bei all
den neuen Eindrücken komplett vergessen, weshalb sie hier unten
sind... “Der Regenwurm! Unsere Blätter! Wir müssen uns beeilen!”
Maulwurf Rudi unterbricht seine Ausführungen und gräbt weiter.
Wieder müssen sie anhalten - dieses Mal kreuzt eine Wurzel ihren
Weg. Genauer gesagt eine Wurzel des Schnurbaums, den sie oben schon
kennengelernt haben.
"Kannst du dem Schnurbaum neben uns noch etwas zu essen
rüberschicken? Und ihm bitte ausrichten, dass ich hier zwei
Wurzelwichte gesehen habe?" ruft der Schnurbaum zu einem Pilz
"Ja", antwortet der Pilz. "Ich bräuchte aber auch noch etwas
Zucker.”
Und schon spüren Mats und Mara, wie durch die feinen Wurzeln im
Boden über das weiße Geflecht der Pilze bis zum benachbarten
Schnurbaum allerlei Stoffe ausgetauscht haben. Für Wurzelwichte, die
ganz besondere Antennen für solche Dinge haben, hört sich das an wie
Musik. Der Maulwurf sieht wieder seinen Einsatz gekommen:
“Über das WWW, das WeltWeiteWurzelnetz, sind die Bäume miteinander
verknüpft. Zwischen den Bäumen sorgen Pilze mit ihren feinen Fäden
dafür, dass sie Nachrichten und Stoffe austauschen können und
bekommen dafür selbst etwas zu essen von den Bäumen...” Mats und
Mara lachen.
“Wir kommen aus dem Wald, da kennen wir uns mit dem Wurzelnetz aus.”
“Richtig, richtig.” sagt Rudi.
“Wo ist der Regenwurm jetzt?” fragt Mara besorgt.
“Kommt”, ruft der Maulwurf, er gräbt einen Gang um die Wurzel herum
und stößt schon wieder gegen einen Widerstand.
“Autsch!”
“Was ist da?” fragen Mats und Mara.
“Asphalt. Beton. Menschenkram. Das brauchen die Menschen für ihre
Straßen. Ein bisschen wäre ja ok, aber hier ist es überall. Da kann
die Erde nicht mehr atmen.”
Der Maulwurf gräbt weiter. Jetzt fällt es ihm um einiges
schwerer.
"Und das Doofe ist, dass die Erde vom vielen Bauen und den
Fahrzeugen zusammengedrückt wird und ganz hart wird, da können die
Pflanzen nicht mehr richtig wachsen, und wir nicht mehr
graben...”
Das kennen Mats und Mara auch aus dem Wald, darüber klagen die
Bäume, wenn große Fahrzeuge über ihre Wurzeln rollen.
Der Maulwurf schnüffelt, er wittert nach dem Regenwurm, riecht aber
etwas ganz anderes. Mats und Mara riechen es auch.
“Ein Abwasserkanal. Da fließt alles aus dem Klo der Menschen
durch...”
“Menschenkacka?”, frag Mats erstaunt. Im Wald wird alles, was die
Tiere ausscheiden gleich weiterverarbeitet.
“Genau”, sagt der Maulwurf. Er schnüffelt wieder in die Luft.
“Ah, ich glaube, jetzt habe ich den Regenwurm wieder! Schnell, wir
können einen Gang benutzen, den ich schon gegraben habe. Der
Maulwurf krabbelt voran, und Mats und Mara haben Mühe, ihm
nachzukommen.
„Da!“ Am Ende eines langen Ganges entdecken Rudi, Mats und Mara
einen Regenwurm.
„Ist er das?“ fragt Rudi.
„Ja.“ antwortet Mats.
“Geht alleine zu ihm hin”, sagt der Maulwurf. “Vor mir hat er
Angst.”
Die Wurzelwichte nähern sich dem Wurm. Um ihn herum sind überall
Reste von Blättern.
“Sind das unsere?” fragt Mats beklommen. Der Regenwurm ist derweil
schon wieder weitergekrochen, Regenwürmer haben immer etwas zu tun.
Wie sollen Mats und Mara nun zurück in den Wald kommen, nun da sie
wohl alle Blätter verloren haben?
Plötzlich hören sie ein Geräusch - ein leises „Ük-ük.“ klingt durch
den Erdboden. Mats und Mara spüren den dunklen Ton am ganzen Körper.
Diesen Ruf kennen sie doch schon! Sie folgen dem Geräusch und finden
in einer kleinen Erdhöhle die Kröte, die sie ganz am Anfang ihrer
Reise kennengelernt haben. Selbst hier in der Dunkelheit sehen Mats
und Mara das funkelnde Gold in den Augen der Kröte.
“Da seid ihr ja!” gluckst die Kröte.
“Hast du den Regenwurm beauftragt, unsere Blätter mitzunehmen?”
fragt Mara. Die Kröte lächelt.
“Ihr habt Gaia, unsere Erde von oben gesehen auf eurer Reise, nun
seid ihr auch in der Erde selbst. Spürt ihr ihren Atem? Schließt die
Augen!”
Mara und Mats sind ganz leise und tatsächlich aus all den Stimmen
der kleinen Tiere, der Bäume und Pilze formt sich der Atem ihres
Planeten. Wie ein warmer Sommerwind umhüllt er die beiden
Wurzelwichte und lässt sie ganz ruhig werden. Sie fühlen sich
genauso wohl, wie sie sich in der Schlafhöhle der alten Eiche
gefühlt haben. Als sie die Augen wieder öffnen, ist die Kröte
verschwunden. Aber sie hat die Blätter mit den Buchstaben
zurückgelassen.
„Könntest du uns nicht gleich die anderen Buchstaben nennen?" ruft
Mats ihr hinterher. Doch seine Worte verhallen im Erdtunnel. Er
seufzt.
„Dafür haben wir unsere Blätter wieder!“, sagt Mara. „Und wir haben
das Atmen der Erde gespürt.“, fügt sie leise hinzu.
“Kommt!“, quiekt der Maulwurf. Er führt sie wieder an die
Erdoberfläche, nicht ohne ihnen noch einiges in seinen Gängen zu
zeigen. Doch irgendwann kommen sie dann doch noch oben an.
"Hallo Wurzelwichte! Na, wie war's da unten? Ihr wart so schnell weg
vorhin, dabei wollte ich euch etwas ausrichten, von der Kröte!",
begrüßt sie knarrend der Schnurbaum. Mats und Mara müssen erst
einmal ihre Augen mit den Händen schützen. Noch sind sie an die
Dunkelheit gewöhnt, und das helle Sonnenlicht blendet sie.
„Ihr dürft meinen sechsten Buchstaben mitnehmen!“ meint der
Schnurbaum. Mats und Mara buchstabieren Schnurbaum.
„S ist der erste, C der zweite Buchstabe, H der dritte, N der
vierte, U der fünfte und R der sechste Buchstabe!“ Mats nimmt ein
Schnurbaumblatt vom Boden und malt vorsichtig ein großes R darauf.
„Aber bevor ihr weiterlauft, könnt ihr euch gerne etwas in meiner
Krone ausruhen“, bietet ihnen der Schnurbaum an. Das lassen sich
Mats und Mara nicht zweimal sagen, sie legen sich ganz oben auf
einen Schnurbaumzweig zwischen die cremeweißen Blüten mit dem gelben
Punkt in der Mitte und lauschen dem Konzert der surrenden Insekten
und singenden Vögel.
„Manchmal fühlt sich auch die Stadt ein bisschen wie der Wald an“,
sagt Mara.
“Wieviel Bäume sind denn wohl ein Wald?”, fragt
Mats. Dann schweigen die beiden Wurzelwichte und lassen ihre
Gedanken über die Stadt schweifen.
Vom Spielplatz führt ein Fußweg zurück zur Petershauser Straße. Mats und Mara überqueren den Bahnübergang und biegen direkt danach rechts ab in die Moltkestraße und hinter dem Kiosk in die Eisenbahnstraße. Von dort geht es links in den „Alten Wall“ und gleich wieder links in die Hegaustraße, die einen rechtwinkligen Knick zu einem Innenhof mit einem großen Spielplatz und frisch gepflanzten Magnolien: STATION 10.